Leseprobe Buch Muritaten - Beate Kunze

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Leseprobe Buch Muritaten

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Aus "Muritaten"

Nordlicht

"Ich werde euch von Peer erzählen," begann Lena.
"Peer, wirkte bärbeißig und wortkarg.  Er lebte zurückgezogen, ganz am Rande des Dorfes in der letzten  Hütte der ohnehin weitauseinandergezogenen Gehöfte.
Er machte kein Hehl daraus, dass ihm jeder Besuch aus der Nachbarschaft ungelegen kam. Er kam damals mit einer großen, zerschlissenen Aktentasche, der man kaum zutraute,
dass sie den offensichtlich schweren Inhalt noch zusammenhalten konnte. Niemand hat übrigens jemals erfahren, woran der eher mittelgroße, muskulös  und an schwere Arbeit gewöhnt
scheinende Mann so mühsam trug, und so manche Geschichte erzählte man sich über den geheimnisvollen Inhalt.
Ob er überhaupt jemandem einen Gruß zugenickt hatte, damals, vor vielen Jahren,  auch das wusste niemand so genau.
Er kam, verschwand  wieder in der moorigen Gegend und die Leute hatten ihn schon fast  vergessen, als er  erneut aus dem Nichts auftauchte, den Sandboden des letzten bebaubaren
Fleckens vor dem Großmoor ebnete und seine Hütte darauf setzte.
So habe ich es später erfahren. Als ich Peer kennen lernte, hatte die Hütte schon etlichen Herbststürmen standgehalten und ihm manchen  kalten Winter Schutz geboten.
Ich hatte den Auftrag, die Reportage über  dieses kleine, von der Welt vergessene Dorf zu schreiben, gern angenommen, ein paar Tage weg aus dem Großstadtmief würden mir  gut tun.
Viel zu schreiben würde es gewiss nicht geben. Mein Fahrer hatte mich mit den Wirtsleuten bekannt gemacht und versprach,  in vier Tagen wieder zur Stelle zu sein, bevor er den langen Rückweg antrat.
Die Hälfte der Zeit war schon um, als ich Peer  begegnete. Damals habe ich nicht geahnt, dass diese Begegnung die bewegendste in meinem Leben werden sollte.
Mein bisheriger Bericht erwies sich als ziemlich kümmerlich. Es gab einfach nichts Nennenswertes, mit dem ich die anspruchsvollen und an Sensationen gewöhnten Leser fesseln  konnte.
Ein paar zerbröckelten Fassaden, die auf  eine bessere Vergangenheit schließen ließen,  kitzelte ich die Romantik lustlos heraus.  
Nach dem einfachen Abendessen, das ich gemeinsam mit meinen liebenswerten Wirtsleuten einnahm, machte ich noch einen kleinen Spaziergang, immer noch in der Hoffnung auf  Erwähnenswertes,
dem ich vielleicht etwas Geheimnisvolles entlocken könnte. Man hatte mich vor dem Großmoor gewarnt, vielleicht war das der Grund, dass ich genau diese Richtung einschlug.
Peer saß in der Abendsonne auf der kleinen Bank vor seiner Hütte, ein so friedlicher Anblick. Er sah zu mir und irgendwie durch mich hindurch. Meinen Gruß erwiderte er  ebenso wenig wie mein Lächeln.
Ich hatte plötzlich keinen sehnlicheren Wunsch, als neben ihm die letzten Strahlen der wärmenden Sonne zu fühlen. Der Alte machte  tatsächlich eine kaum merkliche Bewegung und  rückte  ein wenig zur Seite,
und ich setzte mich zu ihm. Wie lange wir schweigend nebeneinander saßen,  wusste ich später nie zu sagen,  erinnere mich  aber  noch heute an das unglaublich gute Gefühl von Geborgenheit.  
Und an seinen Geruch, eine wunderbare Mischung aus frischer Luft und altem Tabak. Später, als es kühler wurde, erhob sich der Alte mühsam von der Bank, schlurfte in die Hütte und brachte mir einen emaillierten Becher  mit heißer Milch.  
Dann  verschwand er wieder wortlos und schloss die knarrende Tür. So lernte ich  Peer kennen, den Mann, der später immer wieder wie ein roter Faden meine Erzählungen  begleitete, der  seine  Hütte nie mehr verließ und  trotzdem durch die Welt zog."


Lena hob den Kopf und schien aus ihrer Versunkenheit zu erwachen. Keine der Freundinnen rührte sich. Der Feuerschein verlieh den Gesichtern etwas Unwirkliches. Nach einer Weile erhob sich Luise und schenkte die Becher voll.
"Du hast mir nie von ihm erzählt" unterbrach Senta die Stille. Sie war stets die Erste, die Lenas Reiseberichte zu lesen bekam und konnte kaum glauben, dass die Freundin den merkwürdigen Alten nicht erwähnt hatte.
"Erzähl weiter" bat Luise. Lena rückte sich in ihrem Sessel zurecht und nahm einen großen Zug aus dem Becher.
Alle sahen ins Feuer und es war, als würde der Alte den tanzenden Flammen entsteigen und eine lange ruhende Vergangenheit wieder mit seinem Leben erfüllen.
"Es zog mich ganz selbstverständlich auch am nächsten Abend zu ihm" begann Lena erneut

 
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